Liebes Forum,
ich habe mal wieder eine Frage an die Experten.
Auf der langen Liste mir unverständlicher Rätsel der Signalverarbeitung
steht ein Phänomen, dass ich mir schon seit langer Zeit nicht selbst
erklären kann.
Aus Sicht eines Musikers wundere ich mich darüber, dass in der Literatur
und wenn ich mit Kollegen über Phänomene von Zeitverhalten von Systemen
spreche, immer schnell der Begriff Gruppenlaufzeit genannt wird.
Mir erscheinen die genannten/ gemessenen Zeiten unplausibel. Diese sind
in aller Regel kürzer als ich aufgrund meines Höreindruckes vermuten
würde.
Ich vermute ein Missverständnis der Begriffe "Gruppenlaufzeit" und
"Einschwingvorgang".
Im Anhang habe ich ein Beispiel eingefügt. Ich messe bei diesem System
(Allpass) für ein Anregungssignal von 1kHz (Sin) eine Gruppenlaufzeit
von ~647µs. Die Zeit die das System zum einschwingen braucht dauert etwa
doppelt so lange. [1]
Genau genommen bezieht sich die Gruppenlaufzeit doch auf die "Zeit, um
die eine Änderung der Hüllkurve eines sinusförmigen Trägersignals am
Ausgang des Systems verzögert erscheint. Da die Information des
Audiosignals, etwa Beginn und Ende eines Tons oder Modulationen seines
Verlaufs, in der Hüllkurve kodiert sind [sic] und nicht in der
Phasenlage der darunter liegenden Trägerschwingung, ist für den
Höreindruck die Gruppenlaufzeit von größerer Bedeutung." [2]
Für mich folgen daraus mehrere Fragen:
- Wie kann ein Hüllkurvenverlauf um einen anderen zeitlichen Betrag als
der Einschwingvorgang verzögert sein? Aus der Definition der
Gruppenlaufzeit
würde ich vermuten, dass die Amplitudenwerte gar keine Rolle spielen.
(sondern eben nur die Verzögerung der Änderung)
- Wie schafft man es dieses Phänomen (etwa in einem Hörtest o.ä.) ohne
Einschaltvorgang (und ohne Referenzsignal) zu präsentieren?
- Ist der Einschwingvorgang als solcher (also eben nicht die Verzögerung
einer Hüllkurve) für einen Höreindruck nicht viel entscheidender?
Wo ist der Fehler in meinem Gedankengang?
Wie immer bedanke ich mich schon im Vorraus für die nun folgenden guten
Gedanken verpackt in freundliche Worte.
[1] Ich verstehe unter dem Begriff Einschwingvorgang die Zeit vom
Einschalten bis zum Zeitpunkt an dem das Signal einen statischen Verlauf
angenommen hat. Hier: sich das Signal dem Verlauf einer um den selben
Phasenversatz verzögerten Schwingung angenähert hat.
[2] aus Handbuch der Audiotechnik - Stefan Weinzierl, Springer (c) 2008
Hallo Schnoer',
ich antworte mal sehr kurz:
Die Gruppenlaufzeit ist die Zeit, die das System braucht um vom Eingang
am Ausgang wieder anzukommen. Diese Gruppenlaufzeit ist idR
Frequenzabhängig(!). Daraus folgert auch, dass sich ein Signal - auch
bei einem konstanten Amplitudengang - am Ausgang anders anhören wird. =>
2 fequenzunterschiedliche Sinussignale hören sich bei konstanter
Amplitude, aber unterschiedlicher Phase anders an. Durch die
Gruppenlaufzeit kann die Phase dieser Signale verändert werden.
Was die Einschwingzeit mit der Sache zu tun haben soll verstehe ich
nicht. Ist der Verstärker / das Mischpult nicht schon lange
eingeschaltet? Die Einschwingzeit ist erstens kurz und zweitens einmalig
und somit mE nicht relevant.
Hi Programmierer,
herzlichen Dank für Deine gute Antwort und deine Bereitschaft
Überlegungen anzustellen.
C Programmierer schrieb:> Die Gruppenlaufzeit ist die Zeit, die das System braucht um vom Eingang> am Ausgang wieder anzukommen.
Die Aussage scheint mir unpräzise. Ist der Satz so gemeint, dass die
Gruppenlaufzeit die Zeit ist, die Signal benötigt um ein System zu
durchlaufen?
Ich finde bemerkenswert, dass das Signal beim Durchlauf durch das System
zumindest nicht später als das Eingangssignal beginnt und wesentlich
länger ausschwingt als die Angabe der Grupenlaufzeit vermuten lassen
würde. Das Signal startet zum selben Zeitpunkt - nur eben in diesem
speziellen Fall mit einem Einschwingvorgang.
siehe Abbildung dieses Posts: Das untere Signal ist das Eingangssignal
(Sin 1kHz), das obere das Ausgangssignal. Der grau makierte Bereich
entspricht etwa der Gruppenlaufzeit von ~647µs. Das aus vier Perioden
bestehende Eingangssignal, erscheint im Ausgang nicht vollständig
ausgebildet, aber verzögert bzw. verlängert. Weder Ein- noch
Ausschwingen des Signals bringe ich mit der Gruppenlaufzeit in
Verbindung. Ich halte die Zeit des Einschwingens gegenüber der
Gruppenlaufzeit (also der "Hüllkurvenverzögerung") für klanglich
dominierend. Liege ich falsch?
C Programmierer schrieb:> Diese Gruppenlaufzeit ist idR Frequenzabhängig(!).
Kein Einspruch. In meinem Beipiel, lässt sich der Umstand gut in der
Abbildung 2 (GroupDly, erster Post) ablesen. Ich beschränke mich in der
Betrachtung allerdings zunächst auf eine (diskrete) Frequenz (in diesem
Fall 1kHz) um den Einschwingvorgang gegenüber der Gruppenlaufzeit näher
zu untersuchen.
C Programmierer schrieb:> Daraus folgert auch, dass sich ein Signal - auch> bei einem konstanten Amplitudengang - am Ausgang anders anhören wird. =>> 2 fequenzunterschiedliche Sinussignale hören sich bei konstanter> Amplitude, aber unterschiedlicher Phase anders an.
Was ist mit zwei Frequenzen gemeint? In meinem Beispiel gibt es ja nur
eine Frequenz. Ich bezweifle, dass der dominierende Klangeindruck der
der Signalverzögerung ist. Ich nehme an, dass primär der
Einschwingvorgang ausschlaggebend für den Klangeindruck ist (Die Zeit
bis ein statisches Signal vorherscht, aber eben auch Phänomene wie in
meinem Beispiel die überhöhte Amplitude des ersten Wellenberges.)
C Programmierer schrieb:> Durch die> Gruppenlaufzeit kann die Phase dieser Signale verändert werden.
Kein Widerspruch. Die Aussage würde sich auf den eingeschwungenen
Zustand beziehen, nehme ich an?
C Programmierer schrieb:> Was die Einschwingzeit mit der Sache zu tun haben soll verstehe ich> nicht. Ist der Verstärker / das Mischpult nicht schon lange> eingeschaltet?
Ist er/ es (bzw. generell "das System"). Das Signal aber unter Umständen
nicht. Wie beispielsweise in der Abbildung dieses Posts.
C Programmierer schrieb:> Die Einschwingzeit ist erstens kurz und zweitens einmalig> und somit mE nicht relevant.
Damit dürftest Du mit der gängigen Literatur übereinstimmen. Für den
Höreindruck (die Identifikation zum Beispiel eines Musikinstrumentes)
spielt der Einschwingvorgang eine wesentlich wichtigere Rolle als der
stationäre Zustand. Übertragen auf ein Musikstück, würde man bei jeder
notierten/ neu angeschlagenen Note ein Signal "einschalten" (und je nach
Notenlänge wieder ausschalten). Das ist gegenüber den statischen
Signalen signifikant oft und damit definitiv relevant. Im übrigen darf
es wohl erlaubt sein, diesen "Sonderfall" näher zu betrachten zumal er
kaum ausgeschlossen werden kann.
"Die Aussage scheint mir unpräzise. Ist der Satz so gemeint, dass die
Gruppenlaufzeit die Zeit ist, die Signal benötigt um ein System zu
durchlaufen?"
Ja.
"Ich finde bemerkenswert, dass das Signal beim Durchlauf durch das
System
zumindest nicht später als das Eingangssignal beginnt und wesentlich
länger ausschwingt als die Angabe der Grupenlaufzeit vermuten lassen
würde."
Dein Eingangssignal ist ja auch kein 100%-iges Sinussignal, sondern
besteht aus unendlich vielen Frequenzen (siehe Fourier-Reihe bzw.
Fourier-Transformation). Diese unendlichen vielen Signale kann man
mathematisch alle einzeln Filtern, zum Schluss wieder
aufeinanderaddieren und es wird exakt dein Ausgangssignal wieder
rauskommen.
"Weder Ein- noch
Ausschwingen des Signals bringe ich mit der Gruppenlaufzeit in
Verbindung."
Oh doch! :-) Mit dem Amplitudengang und Gruppenlaufzeitgang kann man das
Ein- und Ausschwingverhalten exakt berechnen.
"Was ist mit zwei Frequenzen gemeint?"
Ich habe von 2 Frequenzen gesprochen, weil erst da ein Klangunterschied
erkennbar sein kann. Ob eine Sinuswelle ein paar µs früher oder später
beginnt ist dem Ohr ziemlich egal. Erst wenn es mindestens eine weitere
Frequenz gibt, kann das Ohr einen Unterschied abhängig von der Phase
hören.
"In meinem Beispiel gibt es ja nur eine Frequenz. Ich bezweifle, dass
der dominierende Klangeindruck der der Signalverzögerung ist."
Ich bezweifle, dass es überhaupt einen unterschiedlichen Klangeindruck
der beiden Signale gibt... gibts es einen? 4 Perioden von einem kHz sind
doch gerade mal 4 ms. Hört man da überhaupt irgendetwas?
"Kein Widerspruch. Die Aussage würde sich auf den eingeschwungenen
Zustand beziehen, nehme ich an?"
Nein, immer!
"Für den Höreindruck (die Identifikation zum Beispiel eines
Musikinstrumentes) spielt der Einschwingvorgang eine wesentlich
wichtigere Rolle als der stationäre Zustand."
Mag sein, dass man ein Musikinstrument durch das Einschaltverhalten
mathematisch leichter eingegrenzt werden kann (falls du sowas vor hast).
Mit dem Ohr höre ich zumindest ein Musikinstrument aber an seinem
"statischen" Signal - egal ob Gitarre, Klavier oder sonstwas. Da sind
mir die ersten paar µs / ms des Klangs ziemlich egal.
Rein aus Interesse: Was hat du eigentlich vor?
Bei einer einzigen Frequenz die Gruppenlaufzeit zu messen ist unmöglich,
da die Gruppenlaufzeit quasi das Integral der Phasenverschiebung über
die Frequenz ist.
Die "Einschwingzeit" ist einfach die Zeit nach der der Betrag der
Impulsantwort dauerhaft unterhalb einem bestimmten Wert ist.
Vielen Dank Programmierer und Christian,
C Programmierer schrieb:> Rein aus Interesse: Was hat du eigentlich vor?
- Die Begrifflichkeit Gruppenlaufzeit verstehen.
- Die Begrifflichkeit Gruppenlaufzeit vom Begriff des Einschwingvorgangs
trennen
- feststellen wie die Klangphänomene Gruppenlaufzeit und
Einschwingvorgang zum Beispiel in Hörversuchen
(Lautsprecherentzerrung,...) von einander getrennt werden können.
Ich folgere aus Deinem Satz
C Programmierer schrieb:> Oh doch! :-) Mit dem Amplitudengang und Gruppenlaufzeitgang kann man das> Ein- und Ausschwingverhalten exakt berechnen.
so wie ich es auch geschrieben habe, dass es sich beim Ein-/
Ausschwingvorgang um ein Phänomen handelt, das mit Gruppenlaufzeit
zusammenhängt, dadurch aber nicht beschrieben wird. Die angegebenen
Gruppenlaufzeiten (also die Zeitangabe) weichen von den Zeiten für Ein-
und Ausschwingvorgang ab.
Es ist möglich, das der Signalbeginn den Systemausgang verzögert
verlässt, der Einschwingvorgang allerdings noch nicht abgeschlossen ist.
C Programmierer schrieb:> Mit dem Ohr höre ich zumindest ein Musikinstrument aber an seinem> "statischen" Signal - egal ob Gitarre, Klavier oder sonstwas. Da sind> mir die ersten paar µs / ms des Klangs ziemlich egal.
Das stimmt nicht. In der Tat sind verschiedene Musikinstrumente ohne
ihren Einschwingvorgang nur sehr schwer voneinander zu unterscheiden.
siehe zum Beispiel:
http://iwk.mdw.ac.at/lit_db_iwk/download.php?id=1884C Programmierer schrieb:> Ich bezweifle, dass es überhaupt einen unterschiedlichen Klangeindruck> der beiden Signale gibt... gibts es einen? 4 Perioden von einem kHz sind> doch gerade mal 4 ms. Hört man da überhaupt irgendetwas?
Der Einwand ist berechtigt. obwohl es auch 40 oder 400 Perioden hätten
sein können. Dadurch (wenn ein stationärer Zustand erreicht wird) ändert
sich das Phänomen nicht. Ich gebe zu ein Beispiel gewählt zu haben, das
im Zeitbereich recht plakativ aussieht. Aber, ja doch es ist schwierig
zu hören, man bemerkt aber einen klanglichen Unterschied beider
Versionen. Deutlicher wird es, wenn man ein tieferes Eingangssignal
wählt.
C Programmierer schrieb:> Dein Eingangssignal ist ja auch kein 100%-iges Sinussignal, sondern> besteht aus unendlich vielen Frequenzen (siehe Fourier-Reihe bzw.> Fourier-Transformation). Diese unendlichen vielen Signale kann man> mathematisch alle einzeln Filtern, zum Schluss wieder> aufeinanderaddieren und es wird exakt dein Ausgangssignal wieder> rauskommen.
In der Darstellung des Zeitbereiches kommt das Signal einem Sinus aber
schon recht nahe.
Die Darstellung des gesamten Spektrums basiert natürlich aber schon aus
"unendlich vielen Frequenzen". Meine Idee war es sich eine Frequenz
rauszusuchen und zu schauen wo/ wie man die Gruppenlaufzeit im
Zeitbereich wiederfindet.
Christian Berger schrieb:> Bei einer einzigen Frequenz die Gruppenlaufzeit zu messen ist unmöglich,> da die Gruppenlaufzeit quasi das Integral der Phasenverschiebung über> die Frequenz ist.
Nun ja. Man kann allerdings angeben um welchen betrag eine Hüllkurve am
Ausgang verzögert erscheint.
Christian Berger schrieb:> Die "Einschwingzeit" ist einfach die Zeit nach der der Betrag der> Impulsantwort dauerhaft unterhalb einem bestimmten Wert ist.
Den Satz verstehe ich nicht.
Schnoer' schrieb:>> Bei einer einzigen Frequenz die Gruppenlaufzeit zu messen ist unmöglich,>> da die Gruppenlaufzeit quasi das Integral der Phasenverschiebung über>> die Frequenz ist.> Nun ja. Man kann allerdings angeben um welchen betrag eine Hüllkurve am> Ausgang verzögert erscheint.
Es gibt keine Hüllkurve bei einer einzigen Frequenz! Eine einzige
Frequenz ist von unendlicher Dauer. Kaum verkürzt du sie (wie in deinen
Beispielen), hast du schon ein Frequenzgemisch. Desshalb können auch
Ein- und Ausschwingvorgänge bei einer einzelnen Frequenz nie vorkommen.
Ich kann bzgl. deiner Fragestellung nicht wirklich mitreden. Es kommt
mir aber so vor, als wenn da der Knackpunkt für's Verständnis zu suchen
ist.
Gerhard
Schnoer' schrieb:> so wie ich es auch geschrieben habe, dass es sich beim Ein-/> Ausschwingvorgang um ein Phänomen handelt, das mit Gruppenlaufzeit> zusammenhängt, dadurch aber nicht beschrieben wird.
Doch, man kann durch die Gruppenlaufzeit das Ein- und
Ausschwingverhalten beschreiben.
Schnoer' schrieb:> Die angegebenen> Gruppenlaufzeiten (also die Zeitangabe) weichen von den Zeiten für Ein-> und Ausschwingvorgang ab.
Nein, weil du die anderen Frequenzen in deinem Signal ignorierst.
Schnoer' schrieb:> Das stimmt nicht. In der Tat sind verschiedene Musikinstrumente ohne> ihren Einschwingvorgang nur sehr schwer voneinander zu unterscheiden.> siehe zum Beispiel:> http://iwk.mdw.ac.at/lit_db_iwk/download.php?id=1884
Auf der Seite kommt: "access denied" Dennoch glaube ich dir, dass es
ohne den Anfang deutlich schwerer sein könnte.
Schnoer' schrieb:> Die Darstellung des gesamten Spektrums basiert natürlich aber schon aus> "unendlich vielen Frequenzen". Meine Idee war es sich eine Frequenz> rauszusuchen und zu schauen wo/ wie man die Gruppenlaufzeit im> Zeitbereich wiederfindet.
Aber genau im Ein- und Ausschwingvorgang "findet man die ganzen
Frequenzen wieder". Die Gruppenlaufzeit deiner einzelenen Frequenz kann
man gut im eingeschwungenen Zustand finden. In deinem zweiten Post ist
der Ausgangssinus ziemlich genau um eine Periode verschoben. Die
Gruppenlaufzeit für 1 kHz beträgt also etwa 1 ms.
Ich denke, dass es am anschaulichsten ist, wenn du einfach mal eine
Fourie-Reihe beispielhaft berechnest. Zum Beispiel 4 ms Sinus mit
anschließenden 16 ms Pause. Von der FR nimmst du meinetwegen die 5 oder
10 niederfrequentesten Signale und lässt sie alle separat über deinen
Filter laufen. Danach wirst du erkennen, dass auch im Ein- und
Ausschwingvorgang die Gruppenlaufzeit exakt eingehalten wird.