Forum: Offtopic Gedanken zum 9. November


von Sigmund (Gast)


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Der 9. November gewinnt in unserer heutigen Zeit immer mehr an 
Bedeutung. Hatte man damals gedacht das man eines der wohl am meisten 
perfektionierten Überwachungssysteme endlich hinter sich gelassen hat so 
muß man diese Hoffnung realistischerweise mehr als relativieren.
Unter dem Vorwand einer inszenierten Bedrohung werden Möglichkeiten 
gesetzlich sanktioniert, von denen selbst die Staatssicherheit geträumt 
hat - Fortschritt macht's möglich.
Auch die Gesinnungsschnüffelei hat Metternich's und Mielkes Zeiten 
längst überholt. Unlängst veröffentlichten französische Historiker einen 
Aufruf:
"Bestürzt über die immer häufigeren politischen Ein­griffe bei der 
Beurteilung ge­schichtlicher Erei­gnisse und betroffen über die 
Gerichtsverfahren gegen Hi­stori­ker, Forscher und Verfasser, wollen wir 
an die fol­genden Grundsätze erinnern:

Die Geschichtswissenschaft ist keine Religion. Der Hi­storiker 
akzeptiert kein Dogma, er respektiert keine Verbote, er kennt keine 
Tabus. Er kann An­stoß er­regen.

Die Geschichtswissenschaft ist keine moralische In­stanz. Es ist nicht 
Aufgabe eines Historikers, zu prei­sen oder zu verdammen. Er erklärt. 
Die Ge­schichtswissenschaft ist nicht der Sklave des Zeit­geistes. Der 
Historiker über­lagert nicht die Vergan­genheit mit den heutigen 
ideologi­schen Begriffen und fügt keine jetzigen Emp­findsamkeit in die 
Erei­gnisse der Vergangenheit ein."
http://www.lph-asso.fr/

Auch diese Probleme glaubte man mit dem Ende der DDR hinter sich 
gelassen zu haben.
Heute wie damals steht der Bürger fassungslos und scheinbar machtlos vor 
einem Staatsapparat der sich immer ungenierter den Teufel um die Meinung 
seines angeblichen Souveräns schert, den er immer mehr zum unmündigen 
Kleinkind degradiert und mit der Überwachung als potentiellen Feind 
klassifiziert.
Doch genau dagegen soll uns der 9. November 1989 eine andere Geschichte 
erzählen: von einem scheinbar allmächtigen Sicherheitsapparat, der doch 
schließlich vor einer friedlichen Revolution unter dem Slogan "Wir sind 
das Volk" auf die Knie gehen mußte.
Wer bedenkt wie unwirklich und unwahrscheinlich der Fall der Mauer war 
verliert auch nicht so schnell den Mut um auch andere Wünsche und Ziele 
nicht aufzugeben. Dieser wichtigen Botschaft sollten wir morgen gedenken 
- denn wir werden sie wohl brauchen. Ob wir es noch einmal schaffen das 
die Sprechchöre der 100.000 mit dem Motto "Wir sind das Volk - keine 
Gewalt!"  durch die Städte ziehen? Herr Schäuble darf selbstverständlich 
sitzenbleiben wenn er uns dann sagen will das er uns doch nur alle lieb 
hat...
Wem danach ist morgen ein Liedchen zu trällern - anbei ein unschlagbarer 
Klassiker der wohl schon Metternichs Laune verdorben hat:

1. Die Gedanken sind frei,
Wer kann sie erraten,
Sie fliehen vorbei,
Wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
Kein Jäger erschießen
Mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei!

2. Ich denke was ich will
Und was mich beglücket,
Doch alles in der Still',
Und wie es sich schicket.
Mein Wunsch, mein Begehren
Kann niemand verwehren,
Es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!

3. Und sperrt man mich ein
In finsteren Kerker,
Ich spotte der Pein
Und menschlicher Werke.
Denn meine Gedanken
Zerreißen die Schranken
Und Mauern entzwei,
Die Gedanken sind frei!

4. Drum will ich auf immer
Den Sorgen entsagen
Und will dich auch nimmer
Mit Willen verklagen.
Man kann ja im Herzen
Stets lachen und scherzen
Und denken dabei:
Die Gedanken sind frei!

5. Ich liebe den Wein,
mein Mädchen vor allen,
sie tut mir allein
am besten gefallen.
Ich bin nich: alleine
bei meinem Glas Weine:
mein Mädchen dabei,
die Gedanken sind frei.

von Rufus Τ. F. (rufus) Benutzerseite


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> Doch genau dagegen soll uns der 9. November 1989 eine andere Geschichte
> erzählen: von einem scheinbar allmächtigen Sicherheitsapparat, der doch
> schließlich vor einer friedlichen Revolution unter dem Slogan "Wir sind
> das Volk" auf die Knie gehen mußte.

Die DDR ist aber nicht nur wegen der "Montagsdemonstrationen" in die 
Knie gegangen, sondern unter anderem auch wegen ganz massiver 
wirtschaftlicher Probleme wie einer durch Krieg, Reparationsleistungen 
und jahrzehntelanger Mangelwirtschaft heruntergekommene Industrie.

Der Vergleich mit der aktuellen Situation schlägt auch deswegen fehl, 
weil es jetzt nicht den wohlhabenden "glitzer-Vorgaukel"-Nachbarstaat 
auf der anderen Seite des Zaunes gibt, nach dessen materiellen Wohlstand 
sich die Bevölkerung gesehnt hatte.

von aha (Gast)


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Vergiss die Demos ... Neben den wirtschaftlichen Problemen gabs noch den 
grossen Bruder, der sich's in einem schwachen Moment anders ueberlegt 
hat, resp kurz weggesackt ist.

von Falk B. (falk)


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@  aha (Gast)

>Vergiss die Demos ...

Naja, Vorsicht junger Freund.

> Neben den wirtschaftlichen Problemen gabs noch den
>grossen Bruder, der sich's in einem schwachen Moment anders ueberlegt
>hat, resp kurz weggesackt ist.

Sicher, das ist auch ein wesentlicher Punkt. Aber wie immer gibt es für 
jedes komplexe Problem eine einfache, kurze und falsche Antwort ;-)

Viele Dinge haben da reingespielt, auch eine Portion Glück. Aber die 
Demos waren letztendlich auch (sehr) wichtig, um die brodelnde Situation 
(Flüchlinge in Ungarn und der Prager Botschaft) weiterzuentwicklen und 
dahin zu bringen, wo sie dann am 9. November friedlich endeten. Die 
Demos ALLEIN hätte es gar nicht gegeben bzw. hätten nie und nimmer was 
bewirkt, das ist schon klar.

MfG
Falk

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