Forum: Analoge Elektronik und Schaltungstechnik MLCCs: gravierende DC-Spannungsabhängigkeit


von Third E. (third-eye)


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Hallo,

Keramikkondensatoren (X7R, X5R, Y5V,… im Prinzip alle außer NP0/C0G) 
sind ja bekanntlich relativ "schlecht", was den Temperaturgang, die 
Spannungsabhängigkeit und die Alterung betrifft. Zumindest verglichen 
mit z.B. Folienkondenatoren.
Im Datenblatt/Spec ist oft nur die max. Kapazitätsänderung über 
Temperatur definiert bei 0V DC-Vorspannung. Oft hat man aber DC-Bias.
Selbst diese Kurven sehen oft schon "erschreckend" schlecht aus:
https://www.murata.com/en-us/products/emiconfun/capacitor/2012/11/28/en-20121128-p1

"X7R, X5R, Y5V, ..." beschreibt ja nur das Temperaturverhalten, nicht 
die Abhängigkeit von der anliegenden DC-Spannung.
In dieser schon etwas älteren App-Note wird das Problem beschrieben:
https://www.maximintegrated.com/en/app-notes/index.mvp/id/5527

Ich habe mal einen Entwickler kennengelernt, der auf die kritische 
Nachfrage, warum er für eine Hochtemperaturanwendung einen 
Y5V-Kondensator vorschlug als Antwort bekam: "Weil Y5V günstiger sind". 
Der Kondenator wurde außerdem noch bei 80% der Nennspannung betrieben.
Manchmal wünsche ich mir Gründwalds Schreikissen...
Als ich ihm dann die typischen Kurven über Temperatur zeigte und ihm 
klar machte, dass im Einsatzzweck vielleicht noch 10% der Nennkapazität 
übrig bleiben, war er dann doch etwas erstaunt.

Habt ihr Erfahrungen, was man machen kann, um von 
Herstellern/Distributoren belastbare Daten, also das Gegenteil von 
"typ." Kurven zu bekommen? Ich habe leider von ein paar Herstellern 
trotz der Erwähnung, sehr große Stückzahlen abzunehmen, immer nur die 
Verweise auf die typischen Kurven bekommen. "Typ." heißt ja so viel wie: 
Es kann sein, dass die Teile diese Eigenschaften haben, muss aber nicht. 
Wenn die Werte daneben liegen, tja... Pech gehabt.
Wie kann man das Problem sonst lösen?
Man könnte Zuverlässigkeitstests machen. Aber wer sagt mir denn, dass 
der Hersteller für seine Kondensatoren immer den gleichen 
Fertigungsprozess verwendet? Würde soetwas in einer Product Change 
Notification angekündigt werden? Oder sind sich die Hersteller bewusst, 
dass ihre Kondensatoren schlecht sind und werden den "Teufel tun", die 
Kunden (Einkäufer, unwissende Entwickler) auch noch darauf hinzuweisen?
Fragen über Fragen...
Es wäre schön, wenn ihr mir vielleicht ein paar Erfahrungen mitteilen 
könntet.

Danke
Third-Eye

von Jörg W. (dl8dtl) (Moderator) Benutzerseite


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Third E. schrieb:
> Habt ihr Erfahrungen, was man machen kann, um von
> Herstellern/Distributoren belastbare Daten, also das Gegenteil von
> "typ." Kurven zu bekommen?

Wage ich zu bezweifeln. Das würde ja darauf hinauslaufen, dass er dann
für jedes Exemplar auch die "corner cases" testen müsste um zu
garantieren, dass seine zugesicherten Eigenschaften eingehalten werden.

Ehrlich: das wirst du nicht bezahlen wollen.

Entweder kannst du also mit den typischen Werten leben (und planst
genügend Reserven ein), oder du musst dich nach einer anderen
Technologie umsehen.  Mir wurden beispielsweise letztens mal von einem
Hersteller Aluminium-Polymer-Kondensatoren als Ablösung für MLCC
nahegelegt.  Genauer angesehen habe ich sie mir bislang aber noch nicht,
da ich das Problem nicht akut habe.

von Bürovorsteher (Gast)


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Diese Thematik ist doch ein alter Hut ohne jeden Aufregungswert und 
sollte jedem Entwickler hinlänglich bekannt sein.

> Ich habe leider von ein paar Herstellern
> trotz der Erwähnung, sehr große Stückzahlen abzunehmen, immer nur die
> Verweise auf die typischen Kurven bekommen.

Deine erwähnten sehr großen Stückzahlen interessieren die Hersteller bzw 
Distis überhaupt nicht, zumal der Markt für MLCC im Moment (d.h. ca für 
die nächsten zwei Jahre) total leergefegt ist. Wenn du die Teile nicht 
nimmst, stehen tausend andere in der Schlange hinter dir.

> Oder sind sich die Hersteller bewusst, dass ihre Kondensatoren schlecht
> sind

Die Teile sind nicht schlecht. Wenn dir die Kennwerte nicht genügen, 
musst du etwas passendes in NPO aussuchen und mit den Konsequenzen 
leben.

von Max G. (l0wside) Benutzerseite


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Third E. schrieb:
> Aber wer sagt mir denn, dass
> der Hersteller für seine Kondensatoren immer den gleichen
> Fertigungsprozess verwendet? Würde soetwas in einer Product Change
> Notification angekündigt werden?

Das hängt vom Hersteller ab. Neulich hatte jemand hier nach AEC-Q200 
gefragt, also Automotive-qualifizierten Bauteilen. Bei denen kannst du 
sicher sein, dass der Hersteller PCNs erstellt. Ob du sie dann auch 
bekommst, ist ein anderes Thema ;)

Für Grenzbetrachtungen wirst du (wenn du keine Grenzmuster bekommst) dir 
Bauteile aus ausreichend vielen Chargen besorgen müssen (schon das ist 
nicht ganz trivial), sie foltern (über Spannung, über Temperatur, über 
Alterung) und dann hoffen, dass mehr als eine wilde Punktewolke 
rauskommt.

Mit der Annahme einer Gaußverteilung kannst du dann schauen, wo 3 Sigma, 
4 Sigma, ... liegen und das dann als Grenzwert annehmen. Das Ergebnis 
würde sicher viele Leute (auch beim Hersteller) interessieren, aber das 
ist typischerweise dann etwas, was man als Firma für sich behält ;)

Wäre eine schöne Bachelor- oder Masterarbeit.

von soso... (Gast)


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Third E. schrieb:
> Es wäre schön, wenn ihr mir vielleicht ein paar Erfahrungen mitteilen
> könntet.

Dein Schreikissen brauch ich auch oft, wenn das DC-Bias-Problem nicht 
geglaubt wird (also oft). Wenn man in diverse Referenzdesigns schaut, 
sieht man, dass selbst gestandenen Entwicklern von Halbleiterherstellern 
das Poblem nicht klar zu sein scheint.

Zum Thema:
Solche Kondensatoren kann man schlicht nicht einsetzen, wenn so genaue 
Daten benötigt werden.

Ich verwende sie meist nur als Bypasskondensatoren oder Ein- und 
Ausgangskondensatoren für Schaltregler. Dort kann man einfach mal 
annehmen, dass gilt:
Unter Berücksichtigung DC-Bias haben die Kondensatoren die angegebene 
Toleranz.

Bei solchen Anwendungen benötigt man sowieso eine gewisse Reserve, und 
wenn in einigen Fällen der Rippelstrom um 0,6mV höher ist, darf das 
Design deswegen nicht gleich Probleme machen.

Wenn das nicht reicht, musst du Alternativen einsetzen. Tantal-Polymer 
wäre so ein Kandidat, Alu-Polymer ein anderer. Auch die haben so ihre 
Tücken (C über f charakteristik zum Beispiel).

von Peter D. (peda)


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Bei Anwendungen als Abblockkondensator ist es in der Regel wurscht. Die 
Beispielschaltungen gehen auch oft davon aus, daß ein 100nF nur effektiv 
10nF haben kann.

Interessant ist allerdings, daß bei modernen Schaltreglern die Elkos 
zunehmend durch Keramiks ersetzt werden. Dann muß oftmals wieder ein 
Ripple auf den Feedbackpin zurück gespeist werden, was früher der hohe 
Innenwiderstand der Elkos machte.

von Peter S. (Gast)


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Es obliegt nun mal dem Entwickler zu entscheiden mit welchen 
Unsicherheiten er bei der Spezifikation von Bauteilen leben kann.

von 6a66 (Gast)


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Third E. schrieb:
> Ich habe leider von ein paar Herstellern
> trotz der Erwähnung, sehr große Stückzahlen abzunehmen, immer nur die
> Verweise auf die typischen Kurven bekommen.

Ich denke wenn Du da nich in Dimensionen 10exp9 denkst ist das 
Pillepalle.
Überlech mal: 100n/16V/X7R/0402 kostet iregndwo um die 0,005EUR ab 100k. 
Sind in der Dimension also etwa 5MEUR bei 10exp9 pcs, warscheinlich 
sogar bei den Mengen eher um die 1MEUR. Da könnte es für den Hersteller 
interessant werden dieses eine Bauteil soweit zu charakterisieren. Aber 
das als zugesicherte Eigenschaft? Da würde ich eher vermuten dass er 
dazu das Scheunentor noch ein bisschen aufmacht und dann kannst Du 
gleich mit den typ Werten leben.

rgds

von 6a66 (Gast)


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Max G. schrieb:
> aber das
> ist typischerweise dann etwas, was man als Firma für sich behält ;)

Und das dann Prozessänderungen im eigenen Fertigungsprozess 
entgegensteht.

rgds

von soso... (Gast)


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Peter D. schrieb:
> Bei Anwendungen als Abblockkondensator ist es in der Regel
> wurscht. Die
> Beispielschaltungen gehen auch oft davon aus, daß ein 100nF nur effektiv
> 10nF haben kann.

Eigentlich kommt es darauf an, dass er über einen möglichst breiten 
Frequenzbereich eine möglichst niedrige Impedanz hat.

Und da macht das schon einen Unterschied, welche Kapazität man 
verwendet.

10n 0402 (C0402C103K8RACTU):
10MHz : 1,7Ohm
100MHz : 0,4Ohm

100n 0603  (C0603C104K5RACTU):
10MHz : 0,1Ohm
100MHz: 0,12Ohm

1µ 0603 (C0603C105K8RACTU):
10MHz : 0,05Ohm
100MHz : 0,02Ohm

Der 10n kann den 100n also nicht ersetzen.
Und die Binsenweiseheit, dass ein größerer Kerko hochfrequente Ströme 
nicht aufnehmen können stimmt hier auch nicht-  der 1µ ist gut bis weit 
über 1GHz - und besser als der 100n.

Quelle:
http://ksim.kemet.com/Plots/SpicePlots.aspx

Ein Blick hier rein loht sich. Auch Murata bietet sowas an.

von Andreas S. (Firma: Schweigstill IT) (schweigstill) Benutzerseite


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Max G. schrieb:
> Mit der Annahme einer Gaußverteilung kannst du dann schauen, wo 3 Sigma,
> 4 Sigma, ... liegen und das dann als Grenzwert annehmen.

Und auch die Annahme einer Gaußverteilung will wohlüberlegt, d.h. sehr 
gut begründet sein. Sehr viele Verteilungen sehen nämlich komplett 
anders aus, d.h. entweder aus rein physikalischen Gründen oder weil es 
einen expliziten Einfluss auf die Verteilung gibt.

Wer heutzutage beispielweise Widerstände mit einer Toleranz von +/- 5% 
kauft, sollte sich nicht darauf verlassen, dass die gelieferten 
Widerstandswerte normalverteilt o.ä. wären. Vielmehr wird man 
Wertebereiche von -5% bis -1% und +1% bis 5% vorfinden, da während der 
Fertigung schon die Widerstände für die Toleranzklasse +/- 1% 
herausgepickt wurden, usw.. Gerade bei außergewöhnlich billigen 
Widerständen mit sehr engen Toleranz sollte man daher dringend auf 
Parameter wie z.B. Drift und Alterung achten. Wenn diese nicht zur 
Toleranz unter Normbedingungen passen, handelt es sich materialmäßig um 
mindere Qualität, die eben selektiert wurde.

Dennoch kann es durchaus sinnvoll sein, solche Produkte einzusetzen, 
denn dadurch kann man die Toleranzbänder im Fertigungstest etwas enger 
wählen als bei von vornherein stark streuenden Bauteilewerten. Aber es 
hängt eben gewaltig davon ab, welche Qualitätsansprüche im Feld zu 
berücksichtigen sind.

von tnzs (Gast)


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soso... schrieb:
> Und die Binsenweiseheit, dass ein größerer Kerko hochfrequente Ströme
> nicht aufnehmen können stimmt hier auch nicht-

Soso...
Der C0603C104K5RACTU hat seine Grenzfrequenz bei 12 MHz. Bei 100MHz hat 
der MLCC eine ESR von 120mOhm. Die Impedanz beträgt dann aber schon 
700mOhm hat.
Also wirkungslos.

von Michael B. (laberkopp)


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Third E. schrieb:
> Habt ihr Erfahrungen, was man machen kann, um von
> Herstellern/Distributoren belastbare Daten, also das Gegenteil von
> "typ." Kurven zu bekommen?

Diese Daten SIND die belastbaren Daten.

Was meinst du, was der Hersteller macht ? Zigtausende reale Exemplare 
testen.

von Peter D. (peda)


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soso... schrieb:
> der 1µ ist gut bis weit
> über 1GHz

Nur merkwürdig, daß niemand bei Verstand nen 1µF für 1GHz benutzt.
Der ist dann schon weit jenseits seiner Resonanz, d.h. er wirkt 
induktiv.

Bei hohen Frequenzen nimmt man oft 2 oder 3 Kondensatoren parallel, 
damit sie ihre Resonanzen gegenseitig kurzschließen, z.B. 100pF || 1nF 
|| 10nF.

von soso... (Gast)


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tnzs schrieb:
> Soso...
> Der C0603C104K5RACTU hat seine Grenzfrequenz bei 12 MHz. Bei 100MHz hat
> der MLCC eine ESR von 120mOhm. Die Impedanz beträgt dann aber schon
> 700mOhm hat.
> Also wirkungslos.

immer noch VIEL besser, als 10cm Zuleitung mit 100nH und 63Ohm. (Annahme 
: 1µH/m).

Ob das ausreicht, steht auf einem anderen Blatt.

Für die Funktion "niedrige Impedanz parallel zur Quelle" ist es übrigens 
egal, ob der Kerko induktiv oder kapazitiv ist.

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