Forum: Offtopic "Echtzeitsysteme", "HIL", "Systembus" - wie lange bekannt?


von Walter T. (nicolas)


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Guten Morgen,

ich habe gestern abend zum Einschlafen die Kurzgeschichte "Ananke" von 
Stanislav Lem aus dem Jahr 1971 gelesen. Letztendlich hat sie mir aber 
eher das Einschlafen erschwert. Da die Geschichte jetzt 51 Jahre alt 
ist, spare ich mir Spoilerwarnungen.

Die Handlung: Ein Raumschiff neuen Typs, von dem nur drei Prototypen 
existieren, stürzt bei der ersten Landung auf dem Mars ab, und eine 
Untersuchungskommission sucht fieberhaft nach der Unfallursache, weil 
schon ein zweites unterwegs ist.

Schon sehr schnell ist ein Computerfehler hauptverdächtig, obwohl diese 
Reihe von Steuercomputern allgemein als extrem zuverlässig gilt.

Letztendlich wird eine Verkettung sehr ungünstiger Ereignisse 
identifiziert: Der Bordcomputer ist ein neues Modell mit 30% mehr 
Speicher als der Vorgänger. Die Computer für die Prototypraumschiffe 
werden nach der Grundprogrammierung in einem HIL -System trainiert, 
indem ein zweiter Computer das Streckenmodell mimt. Ein übereifriger 
Mitarbeiter trainiert den Computer extrem pedantisch, beinahe sadistisch 
auf alle möglichen Extremsituationen. Das trainierte Modell wird durch 
den Mitarbeiter auf Extremsituationen überangepasst (overfitted). (Bei 
den vorherigen Modellen war das wegen des kleineren Speichers kein 
Problem.)

Bei der ersten echten Landung auf dem Mars läuft alles so glatt, dass 
das überangepasste System auf der Suche nach Störungen seinen 
Systembus überlastet und damit handlungsunfähig wird - es verliert 
seine Echtzeitfähigkeit. Es folgt der Absturz.

Alle hervorgehobenen Begriffe heißen in der Geschichte anders und ich 
habe sie durch die aktuellen Begriffe ersetzt ("Echtzeitfähigkeit" heißt 
in der Geschichte zum Beispiel "Realzeitfähigkeit", der "Systembus" wird 
als "Kleinhirn" bezeichnet etc.), aber sie werden als sehr konkrete 
Begrifflichkeiten behandelt.

Die ersten digitalen Echtzeitsysteme stammen aus dem Ende der 1940er 
Jahre, waren damals aber definitiv nicht allgemein bekannt. Overfitting, 
HIL, Training, Systembusse etc. sind als Konzepte vermutlich neuer.

Ich weiß, dass der Autor genial war. Aber wie war es möglich, als 
relativer Laie diese Konzepte 1971 schon zu kennen?

: Bearbeitet durch User
von Teo D. (teoderix)


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Walter T. schrieb:
> Ich weiß, dass der Autor genial war. Aber wie war es möglich, als
> relativer Laie diese Konzepte 1971 schon zu kennen?

Er war sicher auch genial genug, um sich mit Fachleuten zu unterhalten.
Keiner schreib Bücher wirklich alleine.....

von Walter T. (nicolas)


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Die Probleme mit Overfitting immer größerer Neuronaler Netzwerke sickern 
erst gerade ins Allgemeinwissen ein, auch wenn ein Fachmann das schon 
vor 20 Jahren hätte abschätzen können.

Aber welcher Fachmann hätte diese Konzepte 1971 erzählen können? (Oder 
eher vorher - die Kurzgeschichte sieht nicht so aus, als sei sie an 
einem Nachmittag zusammengeschrieben worden.)

: Bearbeitet durch User
von Matthias S. (Firma: matzetronics) (mschoeldgen)


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Walter T. schrieb:
> Aber welcher Fachmann hätte diese Konzepte 1971 erzählen können?

Norbert Wiener hat seit etwa 1945 den erneuerten Begriff Kybernetik 
geprägt und damit das Zusammenspiel von Mensch und Rechner beschrieben:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kybernetik

Nach allem, was ich aus den frühen Geschichten von Stanislaw Lem lese, 
hat er sich schon Anfang der 1950er mit Rechnertechnik beschäftigt und 
daraus extrapoliert (z.B. Marax, Prädiktor, Roboter). So weit ist es 
dann nicht, von menschlichen Problemen, wie Schizophrenie, Neurosen oder 
Stress das wieder auf einen Rechner zu übertragen, was seine Werke 
übrignes kein bisschen schmälert.

von Matthias S. (da_user)


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Ist zwar doch ein Stückchen weit weg, aber mich erinnert das Ganze an 
das, was ich über die ersten automatischen Kopplungsversuche der NASA im 
Weltraum gelesen habe.
Da wurde das erste Mal im Weltraum angekoppelt, alles sagt "ok", nur der 
erfahrene Astronaut der schon div. Kopplungen manuell durchgeführt hat: 
"nö, da fehlte das klassische 'Klack' das man sonst immer hört, das ist 
nicht dicht!". Also noch zweimal versucht, das 'Klack' blieb aus. Um 
kein Risiko einzugehen also manuell gekoppelt und beim ersten Versuch 
war das 'klack' zu hören.
Die Analyse später ergab: Das System hat funktioniert, und zwar perfekt! 
Es hat so gut uns so sanft angekoppelt, dass es kein 'Klack' geben 
konnte.

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